Die Kunst des Weltenmachens
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Erscheinung und Wirklichkeit
Mikhail Epstein sieht eine glänzende Zukunft für die Metaphysik im High-Tech-Zeitalter.
„Unzählige Universen hätten in einer Ewigkeit verpfuscht und verpfuscht werden können, bevor dieses System durchgestrichen wurde; viel verlorene Arbeit, viele fruchtlose Versuche und eine langsame, aber kontinuierliche Verbesserung während unendlicher Zeitalter in der Kunst der Welterschaffung.“
David Hume, Dialogues Concerning Natural Religion (1779)
Nie zuvor waren Industrie und Technik, ja selbst Wirtschaft und Werbung, so sehr mit Metaphysik beladen wie heute. Als ich in New York City war, fielen mir die folgenden Schilder auf:
- ‚Sei Herr deines Schicksals. Das Gleiche gilt für die Bezahlung deiner Rechnungen.‘
- ‚Träumen ist gut für die Seele. Entspanne dich ein wenig. Kredit kann helfen.‘
- (In der U-Bahn) ‚Tanze durch das Leben. Geh durch die Station.‘
Solche „metaphysischen“ Werbungen appellieren weniger an praktische Qualitäten als an abstrakte Konzepte wie „Schicksal“, „Träumen“ und „Leben“. Das heißt, sie appellieren an die Möglichkeiten, die ihre Produkte oder Dienstleistungen dem Einzelnen bieten, um sein Leben zu verändern und in eine andere Welt einzutreten.
Genauer gesagt, kann Metaphysik als der Zweig der Philosophie definiert werden, der sich mit der Natur und der Struktur der Welt als Ganzes beschäftigt. Von allen Geisteswissenschaften scheint die Metaphysik die am wenigsten praktische Disziplin zu sein, da sie sich mit den weitesten Fragen beschäftigt, die das „Sein als solches“ oder die „ersten Ursachen der Dinge“ betreffen. Aber auf diese Weise kann die Metaphysik als Testfeld für praktische Anwendungen der Geisteswissenschaften im Allgemeinen dienen: Wenn die Metaphysik als technisches Werkzeug oder als Baustelle für praktische Konstruktionen verwendet werden kann, dann haben die Geisteswissenschaften im Allgemeinen auch das Potenzial, das zu verändern, was sie studieren.
Wie ich bereits sagte, ist der grundlegende Gegenstand des metaphysischen Denkens die Welt als Ganzes. Das unterscheidet die Metaphysik von spezifischeren Disziplinen, die bestimmte Aspekte der Welt untersuchen. Um praktisch zu sein, muss eine Disziplin verschiedene Erscheinungsformen von Gesetzen oder Eigenschaften vergleichen: zum Beispiel verschiedene Substanzen und Elemente (Chemie), Organismen (Biologie) oder Sprachen (Linguistik). Die Metaphysik hat jedoch nur ein einziges Studienobjekt zur Verfügung: die Welt, in der wir leben. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Metaphysiker darüber debattiert, was der Anfang oder die ersten Prinzipien dieser Welt sind: Besteht sie aus Wasser oder aus Feuer? (Thales, Heraklit.) Was ist vorrangig – ein Universelles (eine Idee) oder ein Individuelles (ein Ding)? (Realismus oder Nominalismus.) Ist die Welt in ihren Grundlagen ideal oder materiell? (Hegel oder Marx.) Diese Philosophien, wie brillant sie auch sein mögen und wie kohärent sie auch sein mögen, bleiben alle spekulativ, da sie verschiedene Qualitäten aus ein und derselben Welt extrahieren und sie zu allgemeinen Prinzipien aufblähen. Aber jetzt, mit der Diskussion über parallele physikalische Welten (Universen) und der Verbreitung digitaler virtueller Welten, können wir die Objekte und die möglichen Anwendungen der Metaphysik anders betrachten.
Virtuelle neue Welten
Hier ist eines von vielen Beispielen – ein Experiment zur Schaffung einer erweiterten Realität, die den Unterschied zwischen dem Realen und dem Virtuellen ein Stück weit aufhebt:
„Das als Virtual Cocoon bezeichnete Gerät in einem runden Raum bietet eine weitaus realistischere Vermittlung virtueller Erfahrungen über den gesamten sensorischen Input. Dieses Gerät positioniert den Nutzer in einem Stuhl vor einem fast 360-Grad-Bildschirm, wo er nicht nur in eine visuelle und akustische Präsentation eintaucht, die fast die gesamte Ansicht umfasst, sondern auch Hautempfindungen, Gerüche und Geschmäcker wahrnimmt…“
(R. Hodgin, 2009, ‚Virtual reality cocoon promises full sensory experience‘, aus tgdaily.com.)
Der Virtual Cocoon bietet unseren Sinnen eine neue Welt, die ihre eigene Metaphysik haben kann. In The Rough Guide To The Future schreibt Jon Turney: „Eine ultimative Vision der IT-Zukunft ist der Zugang zu virtuellen Welten, die so reichhaltig sind wie die alltägliche Welt oder reicher als diese“ (2010, S. 305).Der neue metaphysische Bereich umfasst die Gesamtheit aller simulierten und erweiterten Realitäten. Die Metaphysik dieser virtuellen Welten könnte noch faszinierender und anspruchsvoller sein als die der Welt, in der wir leben. Wir können uns vorstellen, dass sich das Feld der Metaphysik immens ausweitet, um diese neu geschaffenen Welten zu erfassen, von denen jede mit ihren eigenen Gesetzen ausgestattet ist.
Turney unterscheidet drei Arten von computerisierten Welten: 1) Spiegelwelten, bei denen es sich um ultra-detaillierte Modelle tatsächlicher Welten handelt, wie z. B. Google Earth; 2) erweiterte Realitäten, bei denen man Informationen durch künstliche Geräte erhält, wie z. B. Brillen oder verkabelte Kontaktlinsen; 3) immersive virtuelle Umgebungen oder vollständig realisierte virtuelle Welten, in die man seinen computergesteuerten Avatar schicken kann. Tatsächlich ist jede virtuelle Welt eine Welt für sich, vom primitivsten Actionspiel bis hin zu Second Life, der 2003 eingeführten Online-Welt, in der man seinen eigenen Avatar gestalten kann und die von Millionen von Menschen bevölkert wird, die an Einzel- oder Gruppenaktivitäten teilnehmen können, indem sie virtuelles Eigentum schaffen und damit handeln. Aber wir können uns Welten vorstellen, die sich von diesen Welten stark unterscheiden, die thalessischen und heraklitischen Welten oder die spinozianischen und hegelianischen Welten, und wir können sie sogar erschaffen. Diese wässrigen, feurigen, pantheistischen oder panlogischen Welten hätten jeweils ihre eigenen metaphysischen Gesetze und eine Reihe von Universalien.
Die meisten virtuellen Welten, die wir bisher in verschiedenen Computerspielen beobachten konnten, waren metaphysisch unspektakulär in ihrer pflichtbewussten Nachahmung der Gesetze der physischen Welt. Das liegt vielleicht daran, dass sich die Technologien der virtuellen Simulation in einem ähnlichen Stadium befinden wie das Kino in den ersten Jahren nach seiner Erfindung. Frühe Filme zeigten ein rennendes Pferd, einen Garten, eine Lokomotive, die sich einem Bahnhof näherte, und andere einfache Fragmente des realen Lebens; in ähnlicher Weise sind die heutigen immersiven virtuellen Welten Erweiterungen unserer alltäglichen Erfahrungen beim Spazierengehen, Einkaufen und Ausgehen – alles in diesen Welten verändert sich in Übereinstimmung mit den physikalischen Gesetzen unserer Welt.
Aber warum sollten wir nicht an die nächste Stufe denken, wenn die virtuelle Technologie in der Lage sein wird, etwas wie Tlön zu schaffen – die Welt aus Jorge Luis Borges‘ Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ (1940), die mit all ihrem Detailreichtum nur in einer fiktiven Enzyklopädie existiert, die Borges‘ Held entdeckt? Um das Denken dieser erstaunlichen Welt zu beschreiben, muss Borges auf philosophische Argumente zurückgreifen und sich auf Denker der Vergangenheit berufen:
„Hume stellte für alle Zeiten fest, dass Berkeleys Argumente weder die geringste Widerlegung zuließen noch die geringste Überzeugung hervorriefen. Dieses Diktum ist völlig richtig in seiner Anwendung auf die Erde, aber völlig falsch in Tlön. Die Völker dieses Planeten sind von Geburt an idealistisch. Ihre Sprache und die Ableitungen ihrer Sprache – Religion, Schrift, Metaphysik – setzen alle den Idealismus voraus. Die Welt ist für sie keine Ansammlung von Objekten im Raum; sie ist eine heterogene Reihe unabhängiger Handlungen … die Menschen dieses Planeten begreifen das Universum als eine Reihe geistiger Prozesse, die sich nicht im Raum, sondern sukzessive in der Zeit entwickeln. Spinoza schreibt seiner unerschöpflichen Gottheit die Attribute der Ausdehnung und des Denkens zu; niemand in Tlön würde ein Nebeneinander verstehen.“
Wir sehen, wie nützlich die Ideen von Hume, Berkeley und Spinoza sind, wenn wir darüber nachdenken, wodurch sich die Bewohner von Tlön von den Erdbewohnern unterscheiden würden. Das Beispiel zeigt auch, wie bestimmte metaphysische Annahmen – in diesem Fall der subjektive Idealismus oder der Berkeleianismus – in die Konstruktion möglicher Welten einfließen können.
Erfinder von Computerspielen müssen zunächst die metaphysischen Parameter für die virtuelle Welt festlegen, in der die Handlung stattfinden soll. Folgende Fragen müssen geklärt werden: ‚Wie funktionieren Ursache und Wirkung?‘, ‚Welche Beziehungen bestehen zwischen Subjekt und Objekt?‘, ‚Wie werden die Bedingungen für den Tod oder das Verschwinden eines Avatars aus dem Spiel definiert?‘ und sogar ‚Wie viele Dimensionen enthält die Welt?‘ oder ‚Wie sind Zeit und Raum in ihr beschaffen, und bilden sie ein Kontinuum?‘ Dies zeigt auch, wie sich metaphysische Annahmen auf die Produktion virtueller Welten auswirken können.
All dies bringt eine neue Beziehung zwischen Philosophie und fortgeschrittenen Technologien ans Licht. In der Vergangenheit war die Technik bei der Befriedigung konkreter menschlicher Bedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Transport mit den materiellen Einzelheiten beschäftigt. Die Philosophie ihrerseits beschäftigte sich mit großen Ideen, ersten Prinzipien, Essenzen und Universalien. Früher war die Technik utilitaristisch, während die Philosophie spekulativ war. Heute hingegen nähern sich Technik und Philosophie immer mehr an: Die Macht der Technik erstreckt sich auf die grundlegenden Eigenschaften der Welt, während die Philosophie diese Eigenschaften weiterhin definiert. Virtuelle Welten werden immer philosophischer, da die Informationstechnologien immer fortschrittlicher werden und ihren Anwendungsbereich von materiellen Details auf die Natur der Welt ausdehnen. Der Mensch wird immer geschickter und erfolgreicher in der Kunst der Welterschaffung; daher bewegt sich die Technologie jetzt auf die Metaphysik zu und nicht mehr von ihr weg. Die beiden treffen sich im Kern des Seins, wo die Prinzipien und Universalien zu finden sind, die traditionell als das Vorrecht der philosophischen Forschung angesehen wurden. Wir könnten diese neue Synthese von Philosophie und Technik „Technosophia“ nennen – technisch bewaffnete Philosophie oder philosophisch orientierte Technologie. Technosophia legt die ersten Prinzipien alternativer Formen von Materie, Leben und Geist im theoretischen Denken und im praktischen Handeln fest.
Ich nenne fortgeschrittene Technologien „Onto-Technologien“, weil sie die Art und Weise verändern, wie wir das Sein und die Struktur der Existenz erfahren. Onto-Technologien haben die Macht, ein neues raum-zeitliches Kontinuum zu schaffen – eine neue sensorische Umgebung und Formen ihrer Wahrnehmung (wie im Virtuellen Kokon) oder neue Arten von Organismen und neue Formen der Intelligenz. Die Nanotechnologien könnten schließlich sogar die Mittel für die Herstellung beliebiger Objekte aus den Quantengrundlagen der Materie liefern. Dies erlaubt es uns, das Entstehen einer Quantenmetaphysik vorauszusehen, die mit der Quantenphysik einhergeht.
Konstruktion von Welten
Mit den jüngsten Durchbrüchen in der Physik, der Kosmologie, der Genetik und den Computertechnologien wird die singuläre Welt, die Gegenstand der traditionellen Metaphysik ist, nun zu einem Multiversum mit vielfältigen Formen und Zweigen erweitert. Mit dem Aufkommen dieses Multiversums hört die Metaphysik auf, über die Grundlagen einer einzigen Welt zu spekulieren. Stattdessen wird sie zu einer praktischen Disziplin für die Konstruktion von Welten mit verschiedenen Eigenschaften, Gesetzen und universellen Konstanten. In der Tat sollten Programmierer und Designer bei der Konstruktion einer virtuellen Welt alle in die Fußstapfen des Philosophen treten, der wie ein Demiurg die grundlegenden Gesetze formuliert. Wenn sich die Philosophen aus diesem grundlegenden Akt der Welterschaffung zurückziehen, dann müssen die Software-Ingenieure oder Spieldesigner die Rolle des Philosophen übernehmen, denn selbst in einem primitiven Spiel kann eine Welt nicht ohne eine Philosophie existieren, die ihr Gesetzessystem untermauert. Aber natürlich sind Spieleentwickler im Allgemeinen keine Philosophen, weshalb die in ihren Werkstätten produzierten Welten metaphysisch so schlicht sind. Diejenigen, die von Beruf und Ausbildung her Philosophen sind, müssen die große Nische füllen, die durch die beschleunigten Prozesse der Welterzeugung in so vielen Berufen entstanden ist. Einige Informatik- und IT-Abteilungen von Universitäten haben vor kurzem begonnen, mit Geschichtsabteilungen zusammenzuarbeiten, um Spiele mit historischem Inhalt zu produzieren, die in der elisabethanischen Ära oder im Zweiten Weltkrieg usw. spielen. Man kann sich vorstellen, dass die philosophischen Fakultäten diesem Beispiel folgen und sich an strategischen Entscheidungen bei der Schaffung virtueller Welten beteiligen.
In der Vergangenheit sprach der Philosoph das letzte Wort über die Welt aus und vollendete sie in Gedanken. Deshalb verglich Hegel die Philosophie mit der Eule der Minerva, die erst mit Einbruch der Dämmerung ihre Flügel ausbreitet. In der Welt von morgen wird der Philosoph eher einer Lerche oder gar einem Hahn ähneln, der das erste Wort über etwas verkündet, das es noch nie gegeben hat, das aber kommen kann. Die Philosophie ist also nicht länger eine bloße Spekulation über erste Prinzipien, sondern ein Experiment zur Erzeugung multipler Welten, sei es die Schaffung eines Computerspiels oder einer umfassenden Virtual-Reality-Erfahrung. So bereitet der technologische Fortschritt eine neue Rolle für den Philosophen als metaphysischer Ingenieur oder als Weltdesigner vor. Der „Virtualismus“, die Theorie und Praxis der Konstruktion virtueller Welten und Wesen, scheint mit den heutigen fortschrittlichen Technologien besser vereinbar zu sein als jeder frühere philosophische „Ismus“. Ein anderer möglicher Begriff für diese neue Berufung der Metaphysik wäre „multiversaler Konstruktivismus“.
Metaphysik der Zukunft
Das zwanzigste Jahrhundert war ein Zeitalter der grandiosen physikalischen Experimente. Das einundzwanzigste Jahrhundert könnte stattdessen ein Zeitalter metaphysischer Experimente werden, zum Beispiel im Zusammenhang mit den Problemen des freien Willens, der Rolle des Zufalls und verschiedener Identitätsparadoxien im Zusammenhang mit Zwillingen, Doppelgängern und Klonen. Michio Kaku beispielsweise sieht in der Frage unserer Doppelgänger („Klone“) in parallelen Quantenwelten ein großes ethisches und metaphysisches Problem:
„Sind wir für die Handlungen unserer Klone verantwortlich? In einem Quantenuniversum würden wir eine unendliche Anzahl von Quantenklonen haben. Da einige unserer Quantenklone böse Handlungen begehen könnten, sind wir dann für sie verantwortlich? Leidet unsere Seele für die Verfehlungen unserer Quantenklone?“ (Parallel Worlds: The science of alternative universes and our future in the cosmos, 2006, S.353.)
Ähnliche Probleme können sich bei unseren digitalen Avataren, biologischen Klonen oder als Ergebnis von Gehirn-Computer-Schnittstellen ergeben. Bin ich zum Beispiel für die Handlungen eines Menschen verantwortlich, der genetisch mit mir identisch ist und auf meinen Befehl hin geklont wurde? Oder wie werden sich meine Gedanken auf die Welt um mich herum auswirken, wenn drahtlose Verbindungen zwischen menschlichen Gehirnen und externer Elektronik geschaffen werden? Wenn ich durch Prothesen verbessert werde, die die Absichten in meinen neuronalen Signalen direkt an mächtige Maschinen übertragen, erhöht dies meine Verantwortung für den Inhalt meines Denkens enorm, verglichen mit der Zeit, als mein Denken im Schädel eingeschlossen war und durch die Kräfte meines weniger als mächtigen Körpers undurchdringlich eingeschränkt wurde.
Heute werden die Grundprinzipien der Existenz, die früher als unveränderlich galten, in Frage gestellt und in metaphysisch aufgeladene Modelle der Realitäten umgewandelt. Kein einziger Aspekt unseres philosophischen Erbes sollte für dieses neue technosophische Feld verloren gehen oder vernachlässigt werden. Alles Wissen, das aus vergangenen Systemen oder Denkschulen stammt, kann bei der Konzeption alternativer Welten klug eingesetzt werden. Die Anwendung der Metaphysik auf die Kunst der Welterschaffung ist nur ein Beispiel dafür, wie die Geisteswissenschaften im Zeitalter der fortgeschrittenen Technologien neue Berufungen finden können.